Warum Menschen zu Lynchjustiz greifen

Ende M?rz 2024 verschwand ein achtj?hriges M?dchen in Taxco, einer mexikanischen Kleinstadt zweieinhalb Autostunden s¨¹dlich von Mexiko-Stadt. Noch bevor die Polizei die Leiche des M?dchens fand, hatte die Dorfgemeinschaft bereits eine mutmassliche Schuldige ausgemacht. Dutzende Anwohner:innen versammelten sich vor ihrem Haus, schlugen die T¨¹r ein und zerrten die Frau auf die Strasse. Vor den laufenden Kameras mehrerer Medienschaffender, die f¨¹r eine Veranstaltung in der Stadt waren, wurde die Frau vom Mob zu Tode gepr¨¹gelt. Die Polizei war zwar pr?sent, griff aber zu sp?t und nicht energisch genug ein.

Neben Mexiko geh?ren solche F?lle von Lynchjustiz vor allem in Brasilien, Indien, Indonesien, Pakistan, Nigeria und in S¨¹dafrika zur Tagesordnung. Bis heute ist sich die Forschung uneinig, warum eine Gruppe von Zivilpersonen pl?tzlich das Recht in die eigenen H?nde nimmt und mit physischer Gewalt gegen mutmassliche Straft?ter vorgeht. ETH-Konfliktforscher Enzo Nussio hat nun erstmals einen ¨¹berregionalen Datensatz von Lynchjustizf?llen in ganz Lateinamerika zusammengetragen, um diese Frage zu beantworten.

Seine Studien, die k¨¹rzlich in mehreren Fachzeitschriften erschienen sind, werfen ein neues Licht auf ein bisher wenig verstandenes Ph?nomen. ?Wir beobachten F?lle von Lynchjustiz vor allem dort, wo ein schwacher Staat auf eine starke, lokale Gemeinschaft trifft, welche die nachbarschaftliche Sicherheit h?her gewichtet als das Leben mutmasslicher Straft?ter?, erkl?rt Nussio, der am Center for Security Studies der ETH Z¨¹rich forscht. Genau das sei auch in Taxco der Fall gewesen.

Erstmals Lynchvorf?lle systematisch untersucht

Obwohl Lynchjustiz eine weit verbreitete Form kollektiver Gewalt ist, st¨¹tzt sich die Forschung dazu oft auf Fallstudien zu einzelnen Vorf?llen. Eine systematische und vergleichende Untersuchung zahlreicher F?lle in verschiedenen L?ndern scheiterte bis anhin an fehlenden Daten. Diese L¨¹cke schliessen nun Nussio und sein Koautor Govinda Clayton mit ihrem neuen Datensatz.

Dieser beruht auf Medienberichten und umfasst 2818 Lynchvorf?lle, die sich zwischen 2010 und 2019 in 18 L?ndern Lateinamerikas ereignet haben. 543 davon endeten mit mindestens einem Todesopfer. Am h?ufigsten entz¨¹ndete sich die Gewalt an vermeintlichen Diebst?hlen, gefolgt von mutmasslichem Mord und Kindesmissbrauch. Knapp die H?lfte aller Lynchvorf?lle wurde von Gruppen begangen, die zwischen 20 und 99 Personen umfassten, knapp ein Drittel von Gruppen mit mehr als 100 Personen.

Mit 261 F?llen in zehn Jahren ist Guatemala das Land mit der h?chsten Lynchrate bezogen auf seine rund 14 Millionen Einwohner. Dahinter folgen Bolivien und Mexiko, wobei Mexiko mit 1134 F?llen die meisten F?lle von Lynchjustiz aufweist. Diese Daten, die die Forschenden auf einer externe Seiteinteraktiven Webseitecall_made visualisiert haben, bilden eine einmalige Grundlage, um die Bedingungen von Lynchjustiz besser zu verstehen.

Schwache Staaten beg¨¹nstigen die Lynchjustiz

?Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Lynchjustiz vor allem dort passiert, wo der Staat und seine Sicherheitskr?fte nicht in der Lage sind, die Zivilbev?lkerung vor Kriminalit?t zu sch¨¹tzen?, sagt Nussio. Die Menschen in diesen Gebieten f¨¹hlen sich eher als Opfer und entwickeln das Bed¨¹rfnis, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen.

Dazu kommt, dass staatliche Akteure in schwachen Staaten oft als illegitim und korrupt wahrgenommen werden. ?Wenn sich beispielsweise die Polizei selbst nicht an das Gesetz h?lt oder gar mit Kriminellen zusammenarbeitet, f¨¹hlen sich B¨¹rgerinnen und B¨¹rger weniger stark an das Gesetz gebunden?, erkl?rt der Konfliktforscher. Gewaltsame Selbstjustiz wird so zu einer legitimen Praxis der sozialen Kontrolle und lokalen Sicherheit.

Solidarit?t, Gruppendruck und geteilte Werte spielen eine wichtige Rolle

Doch dieser Kontext allein erkl?rt noch nicht, warum Menschen pl?tzlich zu Gewalt greifen. Warum beteiligen sich unbescholtene Zivilpersonen an oft brutalen Gewalttaten gegen mutmassliche T?ter, wenn sie auch ohne mitzumachen von der abschreckenden Wirkung dieser Taten profitieren w¨¹rden? Weil sie ein Teil von starken lokalen Gemeinschaften sind, sagt Nussio.

Diese Hypothese belegt der Konfliktforscher zun?chst auf individueller Ebene: Er zeigt anhand repr?sentativer Umfragen in Mexiko-Stadt, dass Menschen mit vielen pers?nlichen Kontakten in der Nachbarschaft eher dazu bereit sind, sich an F?llen von Lynchjustiz zu beteiligen oder sich sogar schon daran beteiligt haben.

Aus denselben Umfragedaten leitet Nussio zudem ab, warum das so ist: ?Zahlreiche pers?nliche Kontakte in einer Dorfgemeinschaft oder Nachbarschaft bilden die Grundlage f¨¹r Solidarit?t und Gruppendruck?, erkl?rt der ETH-Forscher. Je besser jemand in einer Gemeinschaft vernetzt ist, desto eher f¨¹hlt er oder sie sich f¨¹r deren Sicherheit verantwortlich.

Zudem sind die Kosten einer Nichtteilnahme h?her, da der Ruf ein kooperatives Mitglied der Gemeinschaft zu sein auf dem Spiel steht, wenn man sich gegen den lynchenden Mob stellt. ?Wenn ich einmal nicht mitmache, helfen mir die Nachbarn vielleicht nicht, wenn ich das n?chste Mal selbst bedroht werde?, schildert Nussio die soziale Logik des Gruppendrucks.

Dar¨¹ber hinaus findet Nussio, dass Gemeinden oder Nachbarschaften, in denen sich viele Leute gut kennen, ihre kollektive Sicherheit moralisch ¨¹ber die k?rperliche Unversehrtheit des Einzelnen stellen. Die vermeintliche Sicherheit des Kollektivs in Taxco rangiert zum Beispiel ¨¹ber den individuellen Rechten der mutmasslichen Verbrecherin.

Mit Erdbebendaten ¨¹berpr¨¹ft

Doch der ETH-Forscher bel?sst es nicht bei einer Untersuchung auf individueller Ebene. Er pr¨¹ft auch, warum die Lynchraten innerhalb Mexikos stark schwanken. ?Lynchjustiz tritt vor allem in jenen Gemeinden Mexikos h?ufiger auf, wo Nachbarn st?rkere Bindungen haben?, sagt der Konfliktforscher. Gemeinschaften gelten als stark, wenn deren Mitglieder sich regelm?ssig gegenseitig helfen und zusammenarbeiten. Diese Kooperationsbereitschaft entnimmt Nussio aus den Antworten auf eine repr?sentative Umfrage, die in ganz Mexiko durchgef¨¹hrt wurde.

Um die Ergebnisse seiner auf Umfragedaten beruhenden Analyse zu untermauern, hat sich der Konfliktforscher ausserdem ein nat¨¹rliches Experiment zu Nutze gemacht: 2017 kam es in der Region Mexiko-Stadt zu einem Erdbeben. Aus der Forschungsliteratur ist bekannt, dass Naturkatastrophen wie Erdbeben dazu f¨¹hren k?nnen, dass Gemeinschaften n?her zusammenr¨¹cken. Es w?re daher auch zu erwarten, dass die Lynchraten in jenen Gemeinden am meisten zunehmen, die besonders stark vom Erdbeben betroffen sind. ?Genau das habe ich in meinen Analysen festgestellt. Es gab einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und h?heren Lynchraten?, erkl?rt Nussio.

Dass dieser Zusammenhang nicht nur f¨¹r Mexiko gilt, zeigen Nussio und Clayton in einer anderen Publikation anhand des Tsunamis in der indonesischen Provinz Aceh im Jahr 2004. Auch in Aceh steigt die Lynchrate nach dem Tsunami im Vergleich zu anderen Regionen Indonesiens deutlich an.

Lynchjustiz im Westen

Dass es in westlichen Staaten kaum noch F?lle von Lynchjustiz gibt, hat f¨¹r Nussio im Umkehrschluss vor allem damit zu tun, dass die Menschen dort eher darauf vertrauen, dass der Staat und seine Sicherheitskr?fte f¨¹r Sicherheit und Ordnung sorgen und Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Zudem funktionieren westliche Gesellschaften in der Regel deutlich individualistischer als jene in Lateinamerika und S¨¹dostasien. Die Menschen f¨¹hlen sich ihrer Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft weniger stark verpflichtet.